Die Große Heidnische Armee – Aufstieg, Eroberung und Vermächtnis der Wikinger (Mit Video)
- Michael Praher

- 5. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Aug.

Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Zwischen 865 und 878 n. Chr. erschütterte eine beispiellose Wikingerstreitmacht die angelsächsischen Königreiche Englands – die Große Heidnische Armee. Was als Rachefeldzug begann, entwickelte sich zu einer gezielten militärischen Kampagne mit enormer Tragweite. Diese Armee, die weit mehr war als ein wilder Haufen plündernder Nordmänner, markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Sie leitete den Übergang von Blitzüberfällen zu systematischer Eroberung und Besiedlung ein – und legte damit ungewollt den Grundstein für das spätere England.
Die Entstehung der Großen Heidnischen Armee
Von Rache zu strategischer Expansion
Die Gründung der Großen Heidnischen Armee war kein Zufall, sondern das Ergebnis wachsender militärischer Organisation und kultureller Dynamik in Skandinavien. Historisch wurde die Armee von einer Koalition skandinavischer Krieger getragen – hauptsächlich aus Dänemark, aber auch aus Norwegen und Schweden.
Der Legende nach wurde sie von den Söhnen des legendären Wikingers Ragnar Lodbrok ins Leben gerufen – Ivar der Knochenlose, Halfdan Ragnarsson und Ubbe Ragnarsson – um den Tod ihres Vaters zu rächen. Dieser soll von König Aelle von Northumbria in eine Schlangengrube geworfen worden sein – ein Akt, der tiefen Zorn und eine fast religiöse Motivation bei den nordischen Kriegern entfachte.
Doch die Armee war weit mehr als ein Werkzeug der Vergeltung. Sie war der Ausdruck einer neuen Strategie: Die Wikinger strebten nicht länger nur nach Reichtümern, sondern nach Land, Einfluss und dauerhafter Herrschaft.
Zusammensetzung und Organisation
Schätzungen gehen davon aus, dass die Armee aus mehreren tausend Männern bestand – eine enorme Zahl für die damalige Zeit. Es war kein loses Gefolge, sondern ein strukturierter Verband mit Hierarchie, Versorgungslinien und klaren Zielen.
Die Männer kamen mit:
Langschiffen, um rasch Flüsse und Küsten zu überqueren,
Reitpferden, was untypisch für Wikinger war, aber durch Tribute erlangt wurde,
Fortschrittlicher Bewaffnung, darunter Schwerter, Speere, Äxte und Schilde.
Diese Organisation war revolutionär. Die Wikinger begannen, gezielt politische Spannungen auszunutzen, Gebiete dauerhaft zu kontrollieren und Verwaltungsstrukturen aufzubauen.
865: Die Ankunft in East Anglia
Im Spätherbst des Jahres 865 landete die Große Heidnische Armee an der Ostküste Englands – in East Anglia, einem relativ schwachen angelsächsischen Königreich. Doch anstatt sofort zu plündern, wählten die Wikinger einen überraschenden Ansatz: Erpressung statt Zerstörung. Sie forderten "Danegeld" – Schutzgeld im Austausch gegen Frieden.
East Anglia zahlte. Die Wikinger erhielten Pferde, Nahrung und sichere Winterquartiere – und gewannen dadurch Mobilität und Zeit. Es war ein kluger Schachzug: Der Angriff wurde nur vertagt, nicht aufgehoben. Und die Armee wurde dadurch stärker als zuvor.
866: Der Sturm auf York – Die Eroberung Northumbrias
Ein Jahr später wendete sich die Armee gen Norden – nach Northumbria, das zu jener Zeit von inneren Machtkämpfen zerrissen war. Die Könige Aelle und Osberht standen im offenen Streit, was den idealen Nährboden für einen Wikingerangriff bot.
Im November 866 fiel York – eine der bedeutendsten Städte Englands – nach kurzer Belagerung. Die Wikinger nutzten Chaos und Spaltung geschickt aus. Die beiden Könige versuchten in einem verzweifelten Bündnis die Stadt zurückzuerobern, scheiterten jedoch. Beide starben im Kampf, Aelle angeblich durch den blutigen Racheakt des „Blutadlers“.
Jórvik – Das neue York
Nach dem Sieg benannten die Wikinger die Stadt in Jórvik um und machten sie zu ihrem Machtzentrum. Hier wurde nicht nur regiert und geplant – Jórvik entwickelte sich auch zu einem pulsierenden Handels- und Kulturzentrum mit weitreichenden Kontakten nach Skandinavien, Irland und ins karolingische Europa.
869: Der Fall von East Anglia
Nach der Etablierung von Jórvik wandte sich die Große Heidnische Armee nach Südosten – in das fruchtbare und religiös geprägte Königreich East Anglia. Im Jahr 869 kam es dort zum entscheidenden Schlag: König Edmund, der christliche Herrscher, leistete mutigen, aber aussichtslosen Widerstand.
Der Märtyrertod von König Edmund
König Edmund wurde von den Wikingern gefangen genommen. Der Überlieferung zufolge weigerte er sich, seinem Glauben abzuschwören oder sich den heidnischen Eroberern zu unterwerfen. Zur Strafe soll er:
an einen Baum gebunden,
mit Pfeilen durchbohrt
und schließlich geköpft worden sein.
Später wurde er als Heiliger Edmund verehrt, und seine Grabstätte entwickelte sich zum Pilgerort. Aus religiöser Tragödie wurde Kult – ein Beispiel dafür, wie tief die Wikinger das kollektive Gedächtnis der Engländer prägten.
East Anglia wird Danelaw
Mit dem Tod Edmunds endete die Unabhängigkeit von East Anglia. Die Wikinger gliederten das Gebiet in ihre Herrschaft ein, führten eigene Gesetze ein und siedelten Teile ihrer Armee dort an. East Anglia wurde Teil der entstehenden Region Danelaw – ein Gebiet, in dem nordisches Recht, Sprache und Siedlungskultur vorherrschten.
Mercia – Widerstand durch Tribut
Nach dem Erfolg in East Anglia marschierte die Große Heidnische Armee westwärts – in das einst mächtige Königreich Mercia. Mercia hatte in früheren Jahrhunderten große Teile Englands dominiert, doch zur Zeit der Invasion war es geschwächt.
873: Die Belagerung von Repton
Im Winter 873/874 schlug die Armee ihr Lager in Repton auf – einer bedeutenden religiösen und königlichen Stätte in Mercia. Archäologische Funde bestätigen dieses Winterlager eindrucksvoll: Dort wurden Massengräber, Waffenreste und eine Verlagerung der Flussufer entdeckt, die zu Verteidigungszwecken vorgenommen worden sein könnten.
Der Sturz von König Burgred
Die Wikinger belagerten Repton, und König Burgred von Mercia wurde ins Exil gezwungen. Sein Platz wurde durch einen Vasallen der Wikinger ersetzt – Ceolwulf II., ein Herrscher ohne echte Macht, der ihnen Steuern und Gefolgschaft zusicherte. Mercia blieb zwar formal bestehen, war aber de facto abhängig vom Willen der Wikinger.
Der Widerstand von Wessex – Alfred der Große
Während Northumbria, East Anglia und Mercia unter die Kontrolle der Wikinger fielen, wehrte sich ein letztes angelsächsisches Königreich hartnäckig: Wessex, regiert von König Alfred, einem der einflussreichsten Herrscher des Mittelalters.
878: Die Schlacht von Edington
Im Jahr 878 kam es zum entscheidenden Zusammenstoß. Ivar der Knochenlose hatte die Armee verlassen, Halfdan konzentrierte sich auf Northumbria – und der verbleibende Teil der Armee unter Guthrum versuchte, Wessex endgültig zu unterwerfen.
Doch Alfred stellte sich ihnen entgegen – in der legendären Schlacht von Edington. Trotz monatelanger Niederlagen gelang es Alfred, die Wikinger zu überraschen und zu besiegen. Der Sieg war ein Wendepunkt.
Der Friede von Wedmore
Nach dem Sieg verhandelte Alfred mit Guthrum. Es entstand der sogenannte Friede von Wedmore:
Guthrum wurde getauft und erhielt Teile Ostenglands zur Besiedlung,
Wessex blieb unabhängig,
die Grenze zum Danelaw wurde festgelegt.
Diese Vereinbarung schuf ein neues Gleichgewicht – und bewahrte zumindest einen Teil Englands vor vollständiger Eroberung.
Die Taktik der Großen Heidnischen Armee
Die militärische Stärke der Großen Heidnischen Armee beruhte nicht nur auf Brutalität, sondern auf geschickter Strategie und psychologischer Kriegsführung.
Beweglichkeit durch Langschiffe und Pferde
Die Kombination aus See- und Landmobilität war revolutionär. Langschiffe erlaubten schnelle Vorstöße entlang der Küsten und Flüsse. Pferde – erbeutet oder erpresst – ermöglichten schnelle Landmärsche. So konnten sie schnell Städte umstellen oder zurückziehen, bevor Verstärkung eintraf.
Schocktaktiken und Ruf
Der Ruf der Wikinger eilte ihnen voraus. Viele Städte ergaben sich ohne Kampf, aus Angst vor Massakern. Berichte über Grausamkeiten – ob übertrieben oder real – verstärkten die Wirkung:
Opfer wurden öffentlich hingerichtet,
Kirchen geplündert,
Reliquien entweiht.
Diese psychologische Kriegsführung war ebenso effektiv wie Schwerter und Äxte.
Danelaw – Ein neues Nordreich in England
Nach Jahrzehnten der Kämpfe hatten sich die Wikinger in großen Teilen Englands nicht nur festgesetzt – sie begannen, ihre eigene Ordnung aufzubauen. Das Ergebnis war der sogenannte Danelaw – ein weitreichendes Gebiet, das nach dänischem Recht (dǫnsk tǫg) regiert wurde.
Was war der Danelaw?
Der Danelaw umfasste große Teile von:
Northumbria (inkl. Jórvik/York),
East Anglia,
Teile von Mercia,
und später auch Gebiete östlich der Watling Street, einer alten römischen Straße.
Hier galten nordische Gesetze, Ortsnamen erhielten skandinavische Prägung (z. B. "-by", "-thorpe", "-thwaite"), und viele Wikinger ließen sich dauerhaft nieder – als Siedler, Händler, Bauern und Herrscher.
Integration und Vermischung
Im Danelaw verschmolzen nordische und angelsächsische Kultur. Es kam zu:
Mischheiraten zwischen Wikingern und Einheimischen,
einer gemeinsamen Verwaltungssprache,
wirtschaftlichem Aufschwung durch skandinavische Handelsnetzwerke,
und dem Aufstieg von Städten wie York zu wichtigen multikulturellen Handelszentren.
Auch religiös veränderte sich das Land: Viele Wikinger wurden christianisiert, entweder freiwillig oder durch Verträge wie den Frieden von Wedmore.
Das Ende der Großen Heidnischen Armee
Auflösung ab 878
Nach dem Scheitern der Kampagne gegen Wessex und dem Friedensschluss mit Alfred begann sich die ursprüngliche Große Heidnische Armee aufzulösen. Die Gründe waren vielfältig:
Teile siedelten sich dauerhaft in den eroberten Gebieten an,
andere zogen weiter nach Irland oder nach Süden,
einige Krieger kehrten in ihre Heimat zurück oder schlossen sich neuen Raubzügen an.
Spätere militärische Unternehmungen fanden unter neuen Anführern statt und waren weniger koordiniert als die ursprüngliche Kampagne.
Guthrum und die Christianisierung
Guthrum, einer der letzten Anführer der Armee, ließ sich taufen und regierte als christlicher König von East Anglia. Er trat unter dem Namen Æthelstan auf – ein Zeichen für die allmähliche Anpassung der Wikinger an die angelsächsischen Strukturen. Dennoch blieb sein Reich kulturell nordisch geprägt.
Langfristiges Erbe
Politische Veränderungen
Die Große Heidnische Armee hatte die angelsächsische Landkarte zerstört. Von ehemals sieben Königreichen waren nur noch Wessex (autonom) und Mercia (abhängig) übrig geblieben. Doch dieser Umbruch legte auch den Grundstein für:
die Stärkung der verbleibenden Königreiche,
den Aufstieg Wessex’ zur dominierenden Macht,
die spätere Vereinigung Englands unter Alfreds Nachfahren.
Kultureller Einfluss
Viele englische Ortsnamen gehen auf nordische Wurzeln zurück.
Archäologische Funde in York, Lincoln, Norwich und anderen Städten belegen dichte skandinavische Besiedlung.
Recht, Sprache und sogar englische Familiennamen wurden von den Wikingern beeinflusst.
Wirtschaft und Handel
Mit dem Danelaw entstanden neue Handelsnetzwerke, die England stärker mit dem skandinavischen und kontinentalen Europa verbanden. Städte wie Jórvik erlebten eine Blütezeit als multikulturelle Wirtschaftszentren.
Fazit: Die Wikinger als Eroberer und Erneuerer
Die Große Heidnische Armee war mehr als nur ein kriegerischer Sturm. Sie brachte zwar Zerstörung, Gewalt und Tod, doch ebenso trug sie zur Umgestaltung Englands bei:
Sie zwangen die Angelsachsen, sich zu reformieren und zu vereinen.
Sie veränderten dauerhaft die kulturelle und sprachliche Landschaft.
Sie bewiesen, dass die Wikinger nicht nur Plünderer, sondern auch Herrscher und Siedler waren.
Was als Rachefeldzug begann, wurde zum Startpunkt einer neuen Ordnung, die England bis heute geprägt hat.
FAQ – Häufig gestellte Fragen zur Großen Heidnischen Armee
Was war die Große Heidnische Armee?
Die Große Heidnische Armee war eine vereinte Streitmacht von Wikingern aus Dänemark, Norwegen und Schweden, die ab 865 n. Chr. nach England segelte. Ihr Ziel war nicht nur Plünderung, sondern gezielte Eroberung und Besiedlung.
Wer führte die Große Heidnische Armee an?
Historischen Quellen zufolge waren die Hauptanführer Ivar der Knochenlose, Halfdan Ragnarsson und Ubbe – Söhne des legendären Wikingers Ragnar Lodbrok. Weitere Anführer wie Guthrum spielten in späteren Phasen eine bedeutende Rolle.
Was war das Ziel der Armee?
Anfangs galt der Feldzug als Racheakt für den Tod Ragnars. Doch schon bald wurde klar, dass es um territoriale Kontrolle, Machtausbau und dauerhafte Ansiedlung ging – besonders in wirtschaftlich wichtigen Regionen Englands.
Was ist der Danelaw?
Der Danelaw war ein großes Gebiet in England, das unter der Herrschaft und nach den Gesetzen der Wikinger stand. Es entstand aus den eroberten Gebieten und prägte Sprache, Kultur und Verwaltung nachhaltig.
Welche englischen Königreiche wurden von der Großen Heidnischen Armee erobert?
Die Armee eroberte York (Northumbria), East Anglia und Teile von Mercia. Nur Wessex unter König Alfred dem Großen konnte sich erfolgreich verteidigen.
Wie endete die Kampagne?
Nach der Niederlage gegen Wessex (878) löste sich die Große Heidnische Armee langsam auf. Einige Krieger siedelten sich an, andere zogen weiter. Doch ihr Einfluss auf die englische Geschichte blieb dauerhaft bestehen.
Welche langfristigen Folgen hatte die Große Heidnische Armee?
Sie veränderte die politische Struktur Englands, führte zur kulturellen Vermischung im Danelaw und ebnete den Weg zur späteren Einigung Englands unter einem König.











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