Ivar der Knochenlose – Der grausame Taktiker
- Michael Praher

- 6. Nov.
- 7 Min. Lesezeit

Einleitung
Unter den großen Namen der Wikingerzeit ragt einer besonders hervor – Ivar der Knochenlose. Ein Krieger, dessen Ruf von Angst, List und Legende umgeben ist. Manche sahen in ihm einen dämonischen Anführer, andere einen strategischen Geist, der ganze Königreiche ins Wanken brachte. Doch wer war dieser Mann wirklich? War er ein grausamer Tyrann, ein genialer Taktiker – oder ein Opfer seiner eigenen Legende? Dieser Artikel beleuchtet das Leben, die Mythen und die Realität des berüchtigten Ivar, der als einer der Anführer der Großen Heidnischen Armee in die Geschichte einging und bis heute ein Symbol für Macht, Intelligenz und Furchtlosigkeit ist.
Herkunft und Familie: Sohn des legendären Ragnar Lodbrok
Wie so viele große Wikingerfiguren ist auch Ivars Ursprung eng mit einer anderen Legende verwoben: der seines Vaters Ragnar Lodbrok. Laut der Ragnarssona þáttr und der Saga von Ragnar Lodbrok war Ivar einer von mehreren Söhnen des berühmten Kriegers, neben Björn Eisenseite, Sigurd Schlangenauge, Hvitserk und Ubbe. Seine Mutter soll Aslaug gewesen sein, eine Frau mit übernatürlichen Gaben, die in manchen Quellen als Tochter des Drachentöters Sigurd Fáfnirbane und der Walküre Brynhildr beschrieben wird. Damit wäre Ivar – zumindest in der Saga – von göttlichem oder heroischem Blut.
Doch Ivars Geburt war ungewöhnlich: Als Ragnar Aslaug heiratete, warnte sie ihn, in den ersten drei Nächten nach der Hochzeit nicht bei ihr zu liegen – sonst würde ihr Kind ohne Knochen geboren werden. Ragnar ignorierte diesen Rat, und so kam Ivar auf die Welt, „ohne Knochen in den Beinen“, wie es in den Sagas heißt. Was genau damit gemeint war, bleibt unklar. Manche glauben, er litt an einer genetischen Krankheit wie Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit) oder einer neurologischen Lähmung. Andere deuten die Bezeichnung „knochenlos“ als Hinweis auf außergewöhnliche Geschmeidigkeit, Klugheit oder gar spirituelle Kraft.
Frühzeichen eines außergewöhnlichen Geistes
Obwohl Ivar körperlich eingeschränkt gewesen sein soll, wird er in den Sagas als hochintelligent, weise und von kaltem Kalkül beschrieben. Schon in jungen Jahren zeigte er ein Gespür für Strategie und Manipulation, das ihn später zu einem der gefährlichsten Anführer seiner Zeit machte. Er war kein gewöhnlicher Krieger, der seine Feinde durch rohe Gewalt bezwang – sondern einer, der den Krieg im Kopf führte. In den Überlieferungen heißt es, dass Ivar mehr Einfluss mit Worten und Plänen ausübte als mit dem Schwert.
Seine Brüder unterschätzten ihn oft, doch Ivar war es, der später den Weg für ihre größten Erfolge ebnete – allen voran den Rachefeldzug für ihren Vater Ragnar, der in England den Lauf der Geschichte verändern sollte.
Der Beginn der Rache: Ragnar Lodbroks Tod in England
Der Wendepunkt in Ivars Leben kam mit dem Tod seines Vaters Ragnar Lodbrok. Laut der Überlieferung war Ragnar auf einem seiner letzten Raubzüge nach England aufgebrochen, um den angelsächsischen König Ælla von Northumbria herauszufordern. Doch das Schicksal wandte sich gegen ihn – sein Schiff ging verloren, seine Männer wurden getötet, und Ragnar selbst wurde gefangen genommen. Ælla ließ ihn in eine Schlangengrube werfen, wo der Wikingerkönig einen qualvollen Tod fand.
Als seine Söhne von der Tat erfuhren, schworen sie Rache. Und so sammelten sie 865 n. Chr. eine Streitmacht, wie Europa sie bis dahin kaum gesehen hatte: die Große Heidnische Armee (micel here in den angelsächsischen Chroniken).
Die Große Heidnische Armee – Ein Krieg, der ein Land erschütterte
Die „Große Heidnische Armee“ bestand aus Tausenden von Wikingern – Dänen, Norwegern und Schweden – die unter Ivar und seinen Brüdern nach England segelten. Historiker schätzen ihre Größe auf bis zu 10.000 Krieger, eine für damalige Verhältnisse gewaltige Zahl.
Doch es war Ivar der Knochenlose, der sich als Kopf der Operation hervortat. Seine physische Schwäche machte ihn nicht weniger gefährlich – im Gegenteil: Er führte aus dem Hintergrund, dachte in Zügen, nicht in Schlägen, und war ein Meister der Einschüchterung und List.
In den Chroniken wird beschrieben, wie Ivar diplomatische Verhandlungen führte, Städte belagerte und strategisch Gegner gegeneinander ausspielte. Manche Historiker bezeichnen ihn heute als einen der ersten wahren Kriegsherren Europas, dessen Taktiken sich deutlich von der typischen Wikinger-Raubzugstrategie abhoben.
Der Fall von Northumbria – Ællas Schicksal
Schließlich zog die Armee gegen König Ælla, den Mörder ihres Vaters. Ælla versuchte, Ivars Invasion abzuwehren, doch die angelsächsischen Kräfte waren zu schwach. Die Wikinger eroberten York (Jorvik) im Jahr 866, das fortan zu einem ihrer wichtigsten Stützpunkte wurde.
Was dann geschah, ist Legende – und bis heute umstritten. Laut der Ragnarssona þáttr und anderen nordischen Quellen wurde Ælla gefangen genommen und von Ivar mit der grausamsten aller Strafen hingerichtet: dem Blutadler. Dabei sollen seine Rippen geöffnet und seine Lungen über die Schultern gezogen worden sein – ein makabres Ritual, das angeblich Ragnars Seele rächen sollte.
Ob der Blutadler tatsächlich praktiziert wurde, bleibt unbewiesen. Viele Historiker halten ihn für eine symbolische oder übertriebene Darstellung, vielleicht eine poetische Metapher für eine grausame Hinrichtung. Doch unabhängig davon: Ivars Rache war vollendet, und sein Name wurde in England zum Synonym für Angst.
Der Meister der Machtspiele
Nach Ællas Tod zeigte Ivar, dass er mehr wollte als nur Vergeltung. Er sicherte sich politische Allianzen, kontrollierte Gebiete im Norden Englands und etablierte Jorvik als Machtzentrum der Wikingerherrschaft. Unter seiner Führung entstand dort ein halbautonomes Reich – das „Königreich der Nordmänner“, das später von anderen Wikingern weitergeführt wurde.
Ivar selbst blieb weiterhin ein Rätsel. Einige Quellen berichten, er habe sich nach Irland gewandt und dort als König von Dublin geherrscht. Andere sagen, er sei jung gestorben und habe ein Reich hinterlassen, das von seinen Brüdern weitergeführt wurde.
Sein Name taucht in verschiedenen Chroniken auf – manchmal als Ímar, manchmal als Ivarr rex Nordmannorum – was die historische Zuordnung schwierig macht. Doch eines steht fest: Ivar war mehr als ein einfacher Krieger. Er war ein Taktiker, Diplomat und Symbol der Furcht – ein Mann, dessen Legende größer wurde als sein Leben.
Ein gebrochener Körper – aber ein ungebrochener Wille
Der Beiname „der Knochenlose“ (inn beinlausi) hat Historiker und Mythenforscher seit Jahrhunderten beschäftigt. Was bedeutete er wirklich? Die nordischen Quellen sind sich nicht einig. Einige beschreiben Ivar als Mann, der so schwach war, dass er sich nicht aufrecht halten konnte. Andere behaupten, er sei „knochenlos wie eine Schlange“ gewesen – vielleicht ein Hinweis auf seine übermenschliche Beweglichkeit oder seine unberechenbare Natur.
Medizinisch betrachtet könnte der Beiname auf eine genetische Krankheit hindeuten – etwa auf Osteogenesis imperfecta, auch Glasknochenkrankheit genannt, oder auf eine neurologische Lähmung, die ihn körperlich beeinträchtigte. Doch trotz solcher Schwächen machte er sich einen Namen als strategischer Kopf und politischer Führer. Seine körperliche Gebrechlichkeit wurde zu einer Quelle seiner Macht – er regierte mit Verstand, nicht mit Muskelkraft.
Der Tod eines Legendenkönigs
Wie Ivar starb, bleibt unklar. Die Angelsächsische Chronik erwähnt, dass Ivar um das Jahr 873 n. Chr. starb. Andere Quellen berichten, er sei in Irland gestorben, wo er als Ímar, König von Dublin, verehrt oder gefürchtet wurde.
Archäologen fanden 1686 in Repton (England) ein Massengrab mit den Überresten von Hunderten Wikingern und einer besonders prunkvollen Bestattung eines Mannes – groß gewachsen, mit einem silbernen Thorshammer, einer zeremoniellen Axt und Opfergaben. Einige Forscher vermuten, dass es sich dabei um Ivar selbst handeln könnte, oder zumindest um einen hochrangigen Anführer der Großen Heidnischen Armee.
Doch die Legende um ihn ist größer als jeder archäologische Fund. In den nordischen Sagas wird Ivar als Listiger, Grausamer, aber auch Visionärer dargestellt – ein Mann, der das Schicksal formte, ohne es je zu kontrollieren. Sein Geist scheint bis in die moderne Popkultur nachzuwirken – in Romanen, Serien wie Vikings oder Computerspielen wie Assassin’s Creed Valhalla, wo er mal als wahnsinnig, mal als genial inszeniert wird.
Ivars Vermächtnis
Während viele Wikingerfürsten als Krieger in Erinnerung blieben, ist Ivars Erbe geistiger und politischer Natur. Er zeigte, dass Macht nicht zwingend vom Schwert abhängt, sondern von Weitsicht, Strategie und psychologischer Kontrolle. Seine Kriegszüge verbanden Raub mit Diplomatie, Zerstörung mit Staatsgründung. Ohne Ivar hätte es möglicherweise kein Wikingerreich in England gegeben – und keine spätere Verbindung zwischen den nordischen und angelsächsischen Kulturen.
In gewisser Weise steht Ivar für den Übergang von der alten, chaotischen Wikingerzeit hin zu einer geordneten Herrschaftsstruktur, in der Handel, Religion und Politik zunehmend ineinandergriffen. Er war ein Symbol des Wandels, ein Mann, der aus einer Welt der Mythen kam und Spuren in der Geschichte hinterließ.
Fazit – Der Knochenlose, der unsterblich wurde
Ob Krüppel, König oder Kultfigur – Ivar der Knochenlose bleibt eine der faszinierendsten Gestalten der Wikingerzeit.Er war weder rein Held noch reiner Schurke, sondern ein Spiegel seiner Ära: grausam, intelligent, ehrgeizig und unberechenbar.Sein Name steht für den Triumph des Geistes über den Körper – und für den Willen, die eigene Schwäche in Stärke zu verwandeln.
Noch heute inspiriert er Geschichten, Serien und Diskussionen über Macht, Führung und Schicksal.Und vielleicht ist das seine größte Leistung: Dass man ihn nach über 1.100 Jahren immer noch nicht vergessen hat.
FAQ: Ivar der Knochenlose
Wer war Ivar der Knochenlose?
Ivar war ein legendärer Wikingerführer des 9. Jahrhunderts, Sohn des berühmten Ragnar Lodbrok und Anführer der Großen Heidnischen Armee, die England verwüstete.
Warum hieß er „der Knochenlose“?
Der Beiname könnte auf eine Krankheit, eine körperliche Schwäche oder symbolisch auf seine schlangenartige Beweglichkeit hindeuten.
War Ivar ein realer Mensch oder nur Mythos?
Er gilt als historisch belegt, auch wenn seine Saga-Darstellungen teils übertrieben oder mythisch ausgeschmückt sind.
Wie starb Ivar der Knochenlose?
Sein Todesjahr wird meist um 873 n. Chr. angesetzt. Die genauen Umstände bleiben unklar; manche Theorien verorten sein Grab in Repton (England).
Was machte ihn so berüchtigt?
Ivar war ein Meister der Strategie, ein grausamer Eroberer und zugleich ein politischer Denker – Eigenschaften, die ihn zu einem Symbol wikingerzeitlicher Macht machten.
Wenn dich die Geschichte der großen Wikingeranführer fasziniert, lies unbedingt auch meine Artikel über Björn Eisenseite, Ragnar Lodbrok und die Große Heidnische Armee – sie zeigen, wie aus Rache, Ruhm und Blut die Legenden einer ganzen Epoche entstanden.










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