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Thing – Die Versammlung der Wikinger (Mit Video)

  • Autorenbild: Michael Praher
    Michael Praher
  • 31. März
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Aug.


Thing-Versammlung der Wikinger in einer Berglandschaft – nordisches Rechtssystem mit Rednern und Kriegern, umgeben von Runen und Bannern

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

In einer Welt ohne zentrale Monarchie und ohne geschriebene Verfassung war das Thing das Herzstück der politischen Kultur der Wikinger. Es war mehr als nur eine Gerichtsverhandlung oder ein Gemeinde­treffen – das Thing war das Fundament einer basisdemokratischen Ordnung, in der Recht gesprochen, Gesetze beschlossen und Konflikte gelöst wurden. Hier kamen freie Männer zusammen, um über das Schicksal ihrer Gemeinschaft zu beraten. Es war ein Ort, an dem Macht nicht durch Geburt, sondern durch Argumente, Einfluss und Konsens ausgeübt wurde – eine Institution, die für das Selbstverständnis der Wikinger als freies Volk von größter Bedeutung war.

Wie das Thing organisiert war

Das Thing war keine einmalige Veranstaltung, sondern ein fest etabliertes Element der Wikinger-Gesellschaft. Jedes Siedlungsgebiet verfügte über ein eigenes lokales Thing, das in regelmäßigen Abständen einberufen wurde – häufig im Frühling und Herbst. Die Versammlungen fanden an sogenannten Thingplätzen statt, oft unter freiem Himmel an symbolträchtigen Orten wie alten Grabhügeln oder heiligen Haine. Man glaubte, dass dort die Götter und Ahnen den Beratungen beiwohnten.


Teilnahmeberechtigt waren ausschließlich freie Männer – die „Karls“. Sklaven (Thralls), Unfreie und Frauen waren formell ausgeschlossen, obwohl Frauen gelegentlich über männliche Vertreter indirekten Einfluss ausübten, besonders wenn sie als Witwen oder Grundbesitzerinnen handelten.


Die Leitung des Things übernahm der Lögsögumaðr – der Gesetzessprecher. Diese Person musste das gesamte geltende Recht auswendig kennen und trug es auf der Versammlung mündlich vor. Seine Funktion war nicht herrschaftlich, sondern erinnerte eher an eine Mischung aus juristischem Kommentator und rechtlichem Gedächtnis der Gemeinschaft. Neben ihm spielten auch Godar (Priesterführer), Streitschlichter und andere lokale Würdenträger eine Rolle bei der Organisation.


Die Atmosphäre war oft angespannt, aber von Ritualen und gegenseitigem Respekt geprägt. Man sprach Recht, handelte, feierte – und verhandelte den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die zentralen Aufgaben des Things

Das Thing erfüllte drei wesentliche Aufgaben: Rechtsprechung, Gesetzgebung und politische Entscheidungsfindung.


Rechtsprechung

Konflikte zwischen Familien, Eigentumsfragen, Gewalttaten und Vertragsstreitigkeiten wurden öffentlich verhandelt. Zeugen wurden aufgerufen, Redner traten auf, und am Ende fiel die Versammlung ein Urteil. Ziel war dabei meist der Ausgleich, nicht die Bestrafung. Wer einen Mord beging, konnte durch Zahlung eines Wergelds (Sühnegeld) Frieden erkaufen – es sei denn, das Verbrechen war besonders schwer oder ehrlos.


Für schwere Vergehen wie Mord, Meineid oder Ehebruch konnte das Thing drastische Strafen verhängen, darunter die Friedlosigkeit – eine soziale Ächtung, die den Betroffenen schutzlos machte. Er durfte von jedem getötet werden, ohne dass der Täter rechtlich belangt wurde.


Gesetzgebung

Da es keine schriftlichen Gesetze gab, mussten bestehende Regeln regelmäßig neu rezitiert, überprüft und im Konsens angepasst werden. Änderungen konnten nur durch die Zustimmung der Mehrheit erfolgen. So blieb das Recht lebendig und anpassungsfähig.


Politische Fragen

Bündnisse zwischen Sippen, Kriegserklärungen, Handelsabkommen oder die Aufnahme neuer Siedler – all das wurde im Thing öffentlich verhandelt. Die Entscheidungen hatten weitreichende Folgen für ganze Regionen.

Die Raben Huginn und Muninn auf einem alten Holzschild mit nordischen Symbolen und Verzierungen.

Das Thing als frühe Form der Demokratie?

Obwohl das Wort „Demokratie“ in der Antike Griechenlands entstand, lässt sich das Thing durchaus als eine proto-demokratische Institution bezeichnen. Es gewährte freien Männern Mitspracherecht, ermöglichte Debatten und kollektive Entscheidungen – eine Seltenheit im mittelalterlichen Europa.


Die Debatten verliefen oft leidenschaftlich. Redner – häufig erfahrene Krieger, Händler oder Clanführer – warben mit Argumenten, Einfluss oder Charisma um Unterstützung. Entscheidungen wurden durch Konsens oder Mehrheitsbeschluss getroffen. In manchen Regionen gab es sogar eine Art „Gerichtsbänke“, die Streitigkeiten förmlich entschieden.

Allerdings war diese Mitbestimmung nicht vollständig gleichberechtigt:


  • Frauen und Unfreie waren ausgeschlossen.

  • Der Einfluss reicher Familien oder Clans war deutlich spürbar.

  • Wer besser reden konnte, hatte oft mehr Macht.


Trotzdem stand das Thing im starken Kontrast zu den feudalen Monarchien Westeuropas – es war Ausdruck von Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung.

Das Allthing – Islands demokratische Wiege

Besondere Berühmtheit erlangte das isländische Allthing, das im Jahr 930 n. Chr. gegründet wurde. Es war das überregionale Thing Islands und wurde einmal jährlich im Þingvellir-Tal abgehalten. Hier kamen Vertreter aller isländischen Regionen zusammen – ein einzigartiger demokratischer Prozess in einer Zeit, in der Könige und Fürsten in anderen Teilen Europas allein herrschten.


Das Allthing hatte vielfältige Funktionen:

  • Es beschloss Gesetze.

  • Es sprach Recht bei schweren Konflikten.

  • Es diente als sozialer Treffpunkt für Händler, Familien, Dichter und Geistliche.


Die Gesetzgebung basierte weiterhin auf mündlicher Überlieferung. Der Lögsögumaðr trug ein Drittel des Gesetzes auswendig pro Jahr vor – in drei Jahren war somit das gesamte Gesetz einmal wiederholt.


Der Ort war zugleich Gericht, Markt, Kultstätte und politisches Forum – ein Zentrum isländischer Identität, das bis heute nachwirkt.

Der Niedergang des Things – und sein Erbe

Mit der Christianisierung und dem Aufstieg zentralisierter Königreiche verlor das Thing in Norwegen, Dänemark und Schweden zunehmend an Bedeutung. Die Monarchen begannen, die Rechtsprechung an sich zu reißen, und lokale Versammlungen wurden durch königliche Beamte ersetzt.


In Island hielt sich das Allthing jedoch deutlich länger:

  • Erst 1262, mit der Unterwerfung unter die norwegische Krone, verlor es seine Unabhängigkeit.

  • Doch die Institution überlebte – und entwickelte sich weiter.


Heute existiert das Althingi als isländisches Parlament fort und gilt als eines der ältesten durchgehend bestehenden Parlamente der Welt. Das Erbe des Things lebt auch in modernen Begriffen weiter: Das englische Wort „thing“ (Ding, Sache) stammt ursprünglich aus dieser Tradition.


Die Idee, dass Gesetze durch Konsens entstehen, dass Recht öffentlich verhandelt wird und dass alle freien Bürger eine Stimme haben, beeinflusste die Entwicklung moderner Demokratien – von Island über Skandinavien bis hin zur angelsächsischen Welt.

FAQ: Häufige Fragen zum Thing der Wikinger

Was bedeutet „Thing“ eigentlich?

Der Begriff „Thing“ stammt aus dem Altnordischen „þing“ und bedeutete ursprünglich „Versammlung“ oder „Angelegenheit“. Später wurde es zum allgemeinen Wort für politische und juristische Zusammenkünfte.

Wer durfte am Thing teilnehmen?

Nur freie Männer (Karls) waren stimmberechtigt. Frauen, Sklaven (Thralls) und Unfreie hatten kein direktes Mitspracherecht, konnten jedoch indirekt über männliche Verwandte Einfluss nehmen.

Gab es eine Polizei oder Richter beim Thing?

Nein. Es gab keine staatliche Exekutive. Die Rechtsprechung basierte auf Zeugenaussagen, Ehre und gesellschaftlichem Druck. Die Durchsetzung von Urteilen lag in der Verantwortung der Gemeinschaft.

Welche Strafen wurden verhängt?

Typisch waren Geldzahlungen (Wergeld), Friedlosigkeit (Achtungslosigkeit) oder Verbannung. Körperliche Strafen oder Todesstrafen waren selten und eher das letzte Mittel.

Gibt es das Thing heute noch?

Ja. Das isländische Parlament Althingi gilt als direkte Fortsetzung des mittelalterlichen Allthings. Auch in Norwegen gibt es mit dem „Storting“ ein Parlament, dessen Name auf das Thing zurückgeht.


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