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Thing – Die Versammlung der Wikinger (Mit Video)

  • Autorenbild: Michael Praher
    Michael Praher
  • 31. März
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 15. Apr.


Nordmänner in einer feierlichen Versammlung unter freiem Himmel, umgeben von Bergen und Wäldern – in der Mitte ein großer Runenstein als Rednerpodest, umgeben von Männern in braunen Gewändern und Helmen – eine schwarze Flagge mit einem nordischen Symbol weht im Hintergrund – Titeltext: 'Thing Versammlung – Das Rechtssystem der Nordmänner' – Darstellung eines Wikinger-Gerichts oder demokratischen Rats.

Das Thing war weit mehr als nur eine einfache Versammlung – es war das politische und rechtliche Fundament der nordischen Gesellschaft. In einer Zeit ohne Könige oder zentrale Herrscher war das Thing die wichtigste Institution zur Selbstverwaltung der Wikinger. Hier kamen freie Männer zusammen, um Gesetze zu beschließen, Streitigkeiten zu schlichten und Urteile zu fällen. Es war ein Ort der Diskussion, der Verhandlungen und manchmal auch der harten Bestrafung.


 

Die Organisation des Things

Jede Gemeinschaft hatte ihr eigenes Thing, sei es auf lokaler oder regionaler Ebene. Die wichtigsten Versammlungen fanden auf dem sogenannten Allthing statt, einer großen überregionalen Zusammenkunft, wie sie besonders in Island bekannt war. Das Thing wurde in regelmäßigen Abständen abgehalten, oft an heiligen Orten unter freiem Himmel, da die Wikinger glaubten, dass die Götter über ihre Entscheidungen wachten.


Die Teilnehmer bestanden aus freien Männern, die das Recht hatten, ihre Stimme zu erheben. Frauen, Sklaven und Unfreie waren vom Thing ausgeschlossen, doch wohlhabende und einflussreiche Familien hatten oft mehr Einfluss auf die Beschlüsse. Die Versammlung wurde von einem Gesetzessprecher (Lögsögumaðr) geleitet – einer hoch angesehenen Person, die das geltende Recht auswendig kannte und öffentlich vortrug. Der Gesetzessprecher hatte keine direkte Macht über die Entscheidungen, sondern fungierte als Bewahrer und Interpret des Rechts, was ihn zu einer der wichtigsten Figuren innerhalb der Gemeinschaft machte.


Neben dem Gesetzessprecher gab es weitere wichtige Rollen innerhalb des Things. Ein Godi (ein Priester und Anführer zugleich) konnte als Vermittler auftreten und hatte oft politischen Einfluss. Zudem gab es Streitschlichter und Boten, die dafür sorgten, dass die Beschlüsse des Things in den Dörfern umgesetzt wurden. Die Versammlungen dauerten oft mehrere Tage, da jede Partei das Recht hatte, ihre Argumente vorzubringen und Zeugen zu benennen. In dieser Zeit wurden nicht nur rechtliche Fragen geklärt, sondern auch Allianzen geschmiedet, Ehen arrangiert und Handelsverträge abgeschlossen.


 

Die Aufgaben des Things

Die Gesetzgebung spielte eine zentrale Rolle, da neue Regeln beschlossen und bestehende Gesetze überprüft wurden. Da es keine schriftlichen Gesetze gab, mussten sie durch den Gesetzessprecher (Lögsögumaðr) mündlich weitergegeben und immer wieder öffentlich vorgetragen werden. Dies stellte sicher, dass sich die Gemeinschaft ihrer Rechte und Pflichten bewusst war. Änderungen an Gesetzen konnten nur durch Mehrheitsentscheid innerhalb des Things beschlossen werden, was den Einfluss der Versammlung auf das gesellschaftliche Leben unterstrich.


Auch die Rechtsprechung war eine wichtige Aufgabe des Things. Streitfälle wurden verhandelt, Zeugen gehört und Urteile gefällt. Dabei wurde großer Wert auf Ehre und Ausgleich gelegt. Konflikte sollten nach Möglichkeit durch Entschädigungen oder Vergleichslösungen beigelegt werden, um Blutfehden zu vermeiden. Dennoch gab es auch harte Strafen: Wer eines schweren Verbrechens wie Mord, Diebstahl oder Eidbruch für schuldig befunden wurde, konnte für vogelfrei (Friedlos) erklärt werden. Das bedeutete, dass die Person keinen rechtlichen Schutz mehr genoss und von jedem ungestraft getötet werden durfte. In einigen Fällen wurde eine Verbannung verhängt, die den Verurteilten zwang, für eine festgelegte Zeit oder für immer das Land zu verlassen.


Neben rechtlichen Angelegenheiten spielte das Thing auch eine bedeutende politische Rolle. Bündnisse zwischen Clans oder Regionen wurden hier beschlossen, ebenso wie Kriegserklärungen oder Friedensverhandlungen. Auch Handelsverträge wurden verhandelt, insbesondere bei überregionalen Versammlungen wie dem Allthing in Island. Dadurch war das Thing nicht nur ein Ort der Rechtsprechung, sondern auch ein zentrales Forum für die Gestaltung der Zukunft der Gemeinschaft.


 

Das Thing als demokratische Institution

Im Vergleich zu vielen anderen mittelalterlichen Gesellschaften war das Thing eine bemerkenswert demokratische Institution, die den freien Männern eine Stimme gab und eine Form der politischen Mitbestimmung ermöglichte. Während in feudalen Monarchien Könige und Adlige die uneingeschränkte Macht besaßen, beruhte das Thing auf kollektiven Entscheidungen und offenen Debatten. Jeder freie Mann konnte an den Versammlungen teilnehmen und seine Meinung äußern, wodurch ein gewisses Maß an Gleichberechtigung innerhalb der Gemeinschaft herrschte.


Allerdings war dieses System nicht völlig gerecht oder gleichwertig. Frauen, Sklaven und unfreie Männer waren vom Thing ausgeschlossen, und nicht jeder freie Mann hatte das gleiche politische Gewicht. Einflussreiche Clanführer, wohlhabende Bauern oder erfahrene Krieger konnten ihre Stellung nutzen, um Stimmen zu gewinnen und Beschlüsse in ihrem Sinne zu beeinflussen. Besonders geschickte Redner hatten oft einen Vorteil, da sie durch kluge Argumentation oder durch das Knüpfen von Allianzen die Meinungsbildung lenken konnten.


Trotz dieser Einschränkungen blieb das Thing ein Symbol für Freiheit und Selbstbestimmung. Es schützte die Gemeinschaft vor der Willkürherrschaft eines einzelnen Herrschers und ermöglichte es den Menschen, aktiv an der Gestaltung ihrer Gesellschaft teilzunehmen. Konflikte wurden nicht einfach durch die Befehle eines Königs oder Fürsten entschieden, sondern durch gemeinschaftliche Beratungen und Verhandlungen. Diese Tradition der politischen Mitbestimmung hatte einen nachhaltigen Einfluss.


 

Das Allthing – Die größte Versammlung

Besonders berühmt wurde das isländische Allthing, das ab 930 n. Chr. regelmäßig in Island abgehalten wurde. Hier versammelten sich Vertreter aus allen Teilen Islands, um über nationale Angelegenheiten zu beraten, Streitigkeiten beizulegen und Gesetze zu beschließen. Dieses System blieb über Jahrhunderte bestehen und machte Island zu einer der ältesten demokratischen Gesellschaften der Welt.


Im Allthing wurden nicht nur politische Entscheidungen getroffen, sondern auch Bündnisse geschmiedet, Handelsverträge ausgehandelt und diplomatische Fragen diskutiert. Die Versammlung war mehr als nur eine juristische Institution – sie war das Zentrum des öffentlichen Lebens, ein Ort des Austauschs und der Gemeinschaft. Händler, Geschichtenerzähler und Reisende kamen zusammen, um Neuigkeiten zu verbreiten und Waren zu tauschen.


Das Rechtssystem basierte stark auf mündlicher Überlieferung und gegenseitigem Vertrauen, da es keine schriftlichen Gesetzestexte gab. Daher spielten die Gesetzessprecher (Lögsögumaðr) eine zentrale Rolle. Sie trugen nicht nur die bestehenden Gesetze vor, sondern interpretierten sie auch und sorgten dafür, dass neue Regelungen im Einklang mit den alten Traditionen standen.


 

Das Ende des Things und sein Erbe

Mit der Christianisierung und der Entstehung zentralisierter Monarchien begann das Thing seine ursprüngliche Bedeutung zu verlieren. Königliche Machtstrukturen gewannen an Einfluss, und viele regionale Things wurden entweder abgeschafft oder in das neue Verwaltungssystem integriert. Besonders in Norwegen und Dänemark setzte sich die königliche Autorität zunehmend durch, wodurch das einst selbstbestimmte Rechtssystem der Wikinger immer mehr von der Krone kontrolliert wurde.


Island hingegen bewahrte sein Allthing noch über Jahrhunderte. Erst 1262, mit der Unterwerfung unter die norwegische Krone, verlor es seine politische Unabhängigkeit. Doch selbst danach blieb es als Institution bestehen und entwickelte sich weiter. Heute existiert das Althingi als isländisches Parlament und gilt als eines der ältesten noch bestehenden Parlamente der Welt.


Das Erbe des Things reicht jedoch weit über Island hinaus. Das Prinzip der offenen Diskussion, der Mitbestimmung und der Rechtsfindung durch das Volk spiegelt sich in vielen modernen demokratischen Systemen wider. Entscheidungsfindung durch Konsens, öffentliche Debatten und die Idee, dass Gesetze nicht von einer einzelnen Autorität diktiert, sondern gemeinsam beschlossen werden, sind Grundpfeiler vieler heutiger Demokratien.



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